Lena Inken Schaefer, 2008
Drei Ebenen strukturieren die Landschaft. In der ersten finden wir 89 verschiedene Tiere, die sich dicht gedrängt auf einer Kupfertafel von insgesamt 26,5 x 35 cm befinden. Die vorderste Ebene wird von einem zentral postierten Baum gegliedert, der weit über den oberen Bildrand hinausragt. Der rechte Bildrand wird durch einen weiteren Baum definiert; links befindet sich ein Bach, der auf das Meer zuführt, das sich still im Horizont verliert und mit dem Himmel verschmilzt.
Die vorderste Ebene ist in dunklen, warmen, erdigen Tönen gemalt. Hinter dieser erstreckt sich eine Aussicht in Grün und Gelb, die uns am Ufer entlang auf eine sonnige Lichtung führt, an der die Silhouette eines fremdartigen Wesens wartet. Seine Hinterbeine ähneln denen eines Kaninchens, die Vorderbeine denen eines Rehs; Rumpf und Hals sind einem Kamel entliehen, der gehörnte Kopf einem Steinbock.
Während ein Mann in der mittleren Bildebene sitzt und im Begriff ist, sich zu erheben, erhält er Anweisungen von einem Weiteren, der sich als alter, vollbärtiger Mann zu dem Nackten hinabbeugt und ihm, mit der linken Hand ihm auf die Schulter fassend, Anweisungen zu geben scheint. Eine Kuh grast hinter ihm friedlich am Waldrand, ein Ziegenbock schaut dem Geschehen zu, ein Affe trottet passiv an ihnen vorbei.
Dromedar und Elefant ruhen zusammen am Ufer, ein Einhorn neigt sich vor ihnen zum Trinken an das Wasser, ein Wal schaut, eine kleine Fontäne prustend, aus diesem bedächtig zu den Baumkronen am Land hinauf und verbindet so die dritte, blaustichige Ebene mit den anderen.
Vorn tummeln sich die Tiere, die wie in einer Parade aus dem dunklen Wald in das Bild hineinschreiten. Eine Katze lauert einer Maus auf, ein Hund widmet sein Interesse eher einer Kröte, die vor sich hin starrt. Schnecken kriechen über den Boden, eine Schlange gesellt sich dazu. Fische liegen am Ufer und schnappen nach Luft, ein Meerschweinchen hockt neben einem Löwen und schaut mit ihm auf den von rechts kommenden Zug.
Die Bäume sind bevölkert von Eulen, Finken, Elstern, Bussard, Fasan und Pfau; zudem sind Papageien und Wellensittiche zu sehen. Zwar lauern einige Tiere anderen auf, wie der Bär, der hinter dem mittleren Baum hervorkommt und seine Pranke schon gegen ein anvisiertes Taubenpärchen erhoben hat; ebenso ein hyänenartiges Tier, das mit bösem Blick eine Ziege zu beeindrucken versucht; diese lässt sich aber nicht aus der Ruhe bringen, ähnlich wie der Hund, der eher interessiert seinen Kopf zurückwendet, um eine Elster zu beobachten, die vielleicht mit typisch lautem Gezeter zu dem Baum fliegt. Und so erinnert die Stimmung hier eher an die eines harmonischen Miteinanders.
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Nähme man hier die allegorischen Schönheiten und die sie umspielenden Putten, die von Hendrick van Balen gemalt wurden, heraus, so fiele die Bildbeschreibung ähnlich aus wie jene der Paradieslandschaft von 1594: Wieder lassen sich drei Bildebenen voneinander unterscheiden: In der ersten spielt sich das Geschehen ab; in der mittleren, zweiten befindet sich erneut eine Waldschneise in Gelb und Grün, die den Betrachter rechts in die Bildtiefe führt und links zum sonnigen Ufer des Meeres, aus dem abermals ein Wal sich bedenklich nah an das Ufer heranwagt, um das Geschehen zu beobachten. Meer und Himmel bilden durch ihre kaltblaue Farbe auch hier eine Ebene, wieder sind erste und dritte, Land und Meer, durch ein kleines Rinnsal verbunden, welches dem Betrachter den Reichtum des Meeres entgegenspült und vor ihm ausbreitet. Statt der staffierten Säugetiere der Paradieslandschaft zeigt Brueghel hier die Früchte der Natur: Auf der linken Seite des Waldbodens präsentieren sie sich in Form von Muscheln, Meeresschnecken, Seesternen, Korallen, Krabben, Hummer, Oktopus, Schildkröte und allen möglichen Fischen, vom monströsen Tiefseefisch über Speisefische wie Forelle, Heilbutt, Wels, bis hin zum fliegenden Fisch, der wie eine zu große Libelle aus dem Liliendickicht des linken Bildrandes zu fliehen scheint, aus dem sich ein Reiher nähert, um sich der angespülten Köstlichkeiten zu bedienen; einen kleinen Fisch hat er bereits im Schnabel.
In der Mitte des Bildes ist eine Anhäufung von Obst und Gemüse vor einer Kürbispflanze platziert: Weintrauben, Zitronen, Erdbeeren, Birnen, Kastanien, Mohrrüben, Gurken, Pastinaken, ein Rettich, ein Kürbis, Birnen, Feigen, verschiedene Kirsch- und Kohlsorten, eine Quitte, Bohnen, Erbsen, Artischocken, Äpfel, Orangen und Melonen. An dieses Arrangement schließen sich Blumen an, die um einen Früchte tragenden Apfelbaum herum wachsen. Die Blüten setzen sich auf der linken Seite durch die Lilien fort, die Blumen scheinen die Landschaft zu umrahmen. Es handelt sich um die gleichen Sorten, die Brueghel in seinen Sträußen malte. Auch hier sind, wie bei den Tieren der Wasserwelt und bei dem Gemüse, unterschiedlichste Arten nebeneinander gezeigt, die weder regional noch jahreszeitlich gebunden sind. Nordische Gänseblümchen stehen neben exotischen, neu für den Garten angesiedelten, selteneren
Liliengewächsen wie die Schachblume oder die Tulpe.
Die einzelnen Blüten überschneiden sich kaum und zeigen, dass es in den Bildern mehr um eine zeichenhafte Darstellung geht, in der die einzelnen Arten präsentiert werden. Die Blumen werden in unterschiedlichen Stadien des Wachstums und Perspektiven nebeneinander aufgereiht und zeigen neben dem Wunsch des Malers, durch Zeichenhaftigkeit die universale Schönheit der Natur darzustellen, auch ein akribisches wissenschaftliches Interesse. Dieses wird ebenso am Umgang mit der Perspektive
deutlich: Der Waldboden ist in einer unnatürlichen Aufsicht gezeigt und von dem Rest der Komposition getrennt. Der Horizont ist viel zu niedrig, der Himmel nimmt eine zu große Fläche ein, der Boden 'klappt' nach vorn in einem Gefälle weg und scheint als bloße Präsentationsfläche, wie die eines Kabinettschranks, zu dienen. Dadurch kann der Maler seinem Interesse an detaillierter Darstellung wie auch dem Thema der vier Elemente gerecht werden, denn vor dem Himmel schweben die Allegorien der Luft und des Feuers durch das Bild. Brueghel scheint sich um diese beiden Elemente kaum gekümmert und sich seinen liebsten irdischen Themen zugewandt zu haben.
Die Dinge sind gleichmäßig über den Boden gestreut. Durch das Ersetzen der 'großen' Tiere, wie sie in den Paradieslandschaften zu sehen sind, durch alle möglichen Arten von Mollusken ist die Handlung im Bild seinerseits noch mehr reduziert, als es in seiner ersten Paradieslandschaft der Fall war. Tiere, Gemüse und Pflanzen sind in kleinen Grüppchen dargestellt, als reihe sich ein Stillleben neben das nächste. Jan Brueghel d. Ä. kann als Begründer der Gattung des Stilllebens in der Landschaft gesehen werden, auch
wenn die von ihm in die Landschaft eingefügten Elemente sich nicht mit dieser verbinden, sondern sie durch die Reihung mit wenigen Überschneidungen wie Fremdkörper in ihrer eigenen Umwelt erscheinen lassen. Brueghel stellt zwar das universale Ganze in einer ornamentalen, verbindenden Weise dar, dessen Realisation jedoch durch perfekte naturalistische Darstellung zu scheitern scheint. Die Objekte wirken, als seien sie auf die Bildfläche 'geklebt'.
Durch die von Hendrick van Balen gemalten Figuren bekommt das Bild etwas von einer Szene aus einem Theaterstück, in der Brueghel die Requisiten der Bühne liefert und diese schmückt.
Anschließend möchte ich auf Bilder anderer Meister eingehen, die die durch Brueghel begründete Tradition des Stilllebens in der Landschaft in Form von Bodenstücken wie auch das von der Landschaft getrennte Stillleben ab der Mitte des 17. Jahrhunderts weitergeführt haben.
Während die Bilder Brueghels sich trotz seines Interesses an der Nahsicht stets noch einer der Tradition der 'Weltlandschaft' entnommenen Präsentationsform verpflichtet fühlten, zeigt Tomás Hiepes in seinem Bild Weintrauben auf Erdboden einen Landschaftsausschnitt, der derart begrenzt ist, dass man meinen könnte, es handle sich wirklich nur um eine Detailansicht eines viel größeren Bildes. Die Fläche ist fast komplett mit Trauben bedeckt und gibt kaum Aufschluss über die sie umgebende Landschaft; nur rechts am Rand ist ein Stein angeschnitten, ein bisschen Laub und die beiden Schnecken zeigen, dass es sich um eine Darstellung in freier Natur handeln soll.
Das Arrangement wird von vorn aus der linken oberen Ecke partiell, wie auf einer Bühne, angestrahlt. Der Rest der Trauben verschwindet im Dunkel des Bildes. Diese künstliche Beleuchtung in das Dunkel hinein verstärkt den Eindruck, dass es sich entweder um eine nächtliche 'Aufnahme' oder um eine Inszenierung in einem Innenraum handeln müsse. Es ist ein entrückter Blick auf die Natur, der ohne jegliche Möglichkeiten immanenter Deutung eine komplette Abwesenheit von Handlung zeigt, denn die zwei hintereinander kriechenden Schnecken kann man wohl kaum als Akteure bezeichnen. Das Bild selbst zeigt nichts außer der puren Präsenz des dargestellten Gegenstandes und so liegt der Inhalt außerhalb des Dargestellten und in der Materialität und Technik der Malerei und in der Form der Darstellung. Es ist so, als illustriere dieses
Bild das Kapitel über die Optik, in dem von dem Interesse an der Nahsicht, von der isolierten Betrachtungsweise, der Ausschnitthaftigkeit und der Imitation der Natur die Rede war.
Durch das starke Heranzoomen des Objekts vollzieht sich hier eine andere Form der
Isolation, als es noch bei Brueghel der Fall war. Hier wird ein Ausschnitt gezeigt, der
eher an einen fotografischen Blick erinnert als an das arrangierende Auge eines Malers.
Einerseits sind die Künstler an der wahrheitsgetreuen Abbildung der Dinge interessiert
und zelebrieren die Ablösung vom Bildinhalt, andererseits zeigen sie die Gegenstände,
die vorher nicht würdig waren, allein dargestellt zu werden, in künstlichen, von der
Natur entrückten Arrangements, die sie doch wieder zur Kunst durch bildnerische
Findung erheben.
Tomás Hiepes ist zwar ein spanischer Maler, und meine Erläuterungen der
gesellschaftlichen Umstände beziehen sich auf Holland und die Niederlande, doch da die
Bilder Brueghels auch in Spanien durch die spanische Herrschaft in den Niederlanden
sehr bekannt und geschätzt waren, lasse ich dieselben Voraussetzungen gelten. Hiepes
war vor allem für seine Stillleben bekannt, malte aber auch Landschaften und religiöse
Bilder, die allerdings ebenfalls wie Stillleben arrangiert sein konnten.
Ein weiteres, vom Bildausschnitt her ungewöhnliches Werk von Tomás Hiepes ist
Trinkender Jäger in einer Landschaft. Ein Jäger kniet sich nach der Jagd an
einen Bach und beugt den Kopf zum Wasser hinunter, um es direkt mit dem Mund zu
trinken. Mit den Händen stützt er sich am Ufer ab. Sein Gewehr hat er neben sich
abgelegt, ebenso wie fünf erbeutete tote Vögel, die lose am Bach liegen. Seine Tasche
hat er noch auf dem Rücken geschultert; er ruht sich nicht aus, sondern scheint nur einen
flüchtigen Schluck zu nehmen, um dann seine Jagd fortzusetzen. Auch hier ist der
Ausschnitt wie in dem Stillleben mit Weintrauben derart begrenzt, dass der Körper des
Mannes nur fast in dem Bild Platz findet; sein Körper scheint das Format zu bestimmen
und nur in der linken oberen Bildecke ist ein kleiner Ausschnitt Himmel zu sehen. Es
kommt zu einer eigenartigen Verbindung von Mensch und Natur: Wie ein Hund beugt er
sich dem Wasser entgegen. Dieser Eindruck entsteht zum einen durch die arrangiert
daliegenden Vögel: Sie liegen dort, als seien sie von dem Maler, also Hiepes selbst, als
Malerei und nicht innerhalb der Handlung von dem Jäger platziert worden; dafür liegen
sie viel zu repräsentativ. Allein aus praktischen Gründen hätte der Jäger sie bestimmt an
den Füßen zusammen gebunden, um sie besser tragen zu können. Außerdem ist der
Ausschnitt in leichter Untersicht dargestellt: Der Betrachter müsste selbst auf dem
Boden liegen, um eine solche Perspektive auf den Trinkenden zu bekommen. Der Blick
ist fokussiert, wie es nur der eines Jägers sein kann, und so könnte man vermuten, dass
es der Blick eines nicht dargestellten Jagdhundes selbst sein könnte, der ebenfalls an
dem Bach trinkt. Der Jäger wird zum Teil des Stilllebens und ist nicht anders dargestellt
als die oft in ihnen vorkommenden, sie begleitenden lebenden Tiere.
Ira Oppermann verweist in ihrer Untersuchung auf eine mögliche Lesart des Bildes als
eine Allegorie der vier Elemente: Das Feuer ist durch das Gewehr, das Wasser durch den
Bach, die Luft durch die Vögel und den Himmel, die Erde durch den Blickwinkel, die
Felsen und Pflanzen dargestellt. Es soll sich um das gleiche Thema handeln wie die
Allegorie der Elemente von Brueghel und van Balen und könnte doch in der Auffassung
nicht unterschiedlicher sein.
Die von Hiepes gemalten Weintrauben lehnen sich in ihrer Farbigkeit und ihrer Brillanz
durch Lasur an niederländische Bodenstücke an, seine anderen Bilder sind meist mit
pastoserem Strich und trockenem Pinsel gemalt und zeigen kein direktes Interesse an
der 'Imitatio', wie es zum Beispiel bei dem holländischen Begründer der Untergattung
Bodenstück der Fall war: Der Maler Otto Marseus van Schrieck (*1619/20 † 1678)
lebte auf dem Land, wo er sich Eidechsen, Raupen und Spinnen als Haustiere hielt und
einen Kräutergarten besaß. Er drückte echte Schmetterlingsflügel und Waldflechten in
die nasse Farbe seiner Bilder, um der Natur näherzukommen.
Wie Brueghel orientiert sich auch van Schrieck weder an Flora noch Fauna der
natürlichen Umgebung in ihren Zusammenhängen, sondern kombiniert diese in absurden
Ansammlungen. Die einzelnen Dinge sind zwar exakt beobachtet, doch werden sie anschließend zu einem Gesamtbild zusammengeführt, ohne Berücksichtigung
natürlicher Gesetze wie Jahreszeit oder Größe. Bei den Bildern van Schriecks fällt auf,
dass seine Motivwahl sehr begrenzt war und er das gleiche Thema fortwährend unter
minimalen kompositorischen Eingriffen wiederholte. Im Unterschied zu den Bildern
Brueghels sind die gemalten Szenerien van Schriecks mehr von dem „Tierkampf“ und
von einer größeren Dynamik und Bewegung geprägt.
Bodenstücke lassen sich nicht immer klar von einem Stillleben im Freien unterscheiden.
Insgesamt zeichnet sich das Bodenstück dadurch aus, dass entweder gar kein oder ein
sehr hoher Horizont dargestellt ist. Außerdem richtet sich in ihnen der Blick auf einen
dunklen Erdboden, von dem sich Reptilien, Amphibien und Schnecken, andere Insekten
und zum Teil auch Vögel abheben. Sie sind gekennzeichnet von Dunkelheit und
künstlicher, szenischer Beleuchtung. Stillleben im Freien sind hell und geben einen
Blick auf eine weite Landschaft frei. Hiepes verbindet in anderen Bildern die
Landschaft mit dem Stillleben, indem er seinen Nahblick wieder etwas zurücknimmt, um
einen größeren Ausschnitt zu zeigen.
Mittig im Bild liegt eine Wassermelonenhälfte (Abb.8), deren Fruchtfleisch hell
ausgeleuchtet wird. Das Licht verteilt sich gleichmäßig über das Bild, leichte
Schlagschatten heben die Früchte, die zu den Seiten und vor der Wassermelone liegen,
plastisch hervor. Hiepes verwendete hier viel mehr Weiß in der Malerei und entfernt sich
damit von den nordischen Vorbildern. Auf der rechten Seite liegt ein abgebrochener Ast
eines Feigenbaumes, an dem die Früchte in ihren einzelnen Reifestadien gezeigt werden.
Dieser lehnt an einem Baumstamm, der eventuell der des abgebrochenen Astes sein
könnte. Der Blick wird durch den weißen, hellen Kranz, der das rosa Fleisch der Melone
umgibt, über einen hellen Felsen mit Weinstock in die Ferne einer hügeligen Landschaft
geführt, in die sich die Silhouette einer Stadt schmiegt. Hinter dieser, die mit dem ersten
Teil der Landschaft die zweite Bildebene darstellt, kann der Blick noch über zwei
weitere Bergkämme schweifen, bevor sich der Horizont in weißen Wolken auflöst.
Ähnlich wie in der Allegorie der Elemente Brueghels zeichnet sich das Bild durch eine
extreme Nahsicht wie auch Fernsicht aus. Hiepes polarisiert diesen Gegensatz jedoch
noch stärker: Das Auge hat die Wahl zwischen der Betrachtung der winzigen Kerne
einer Feige oder der vorüberziehender Wolken. Es kann die Größe eines Objektes nur
relativ und nicht in absoluten Maßen feststellen. Die italienische Kunst stützt sich auf
den Menschen als Maß aller Dinge: „ Groß, klein, lang, kurz, hoch, niedrig, weit, eng, hell, dunkel,
heiter, düster und alles dieser Art, was die Philosophen unwesentliche, zufällige Eigenschaften nannten,
weil sie an Gegenständen vorkommen oder nicht vorkommen mögen ,- sie alle sind so beschaffen, dass sie
nur durch Vergleich erkannt werden.(...) Da dem Menschen von allen Dingen der Mensch am besten
bekannt ist, meinte vielleicht Protagoras mit seinem Satz, der Mensch sei der Maßstab und das Maß aller
Dinge, dass die Zufallseigenschaften in allen Dingen richtigerweise durch den Vergleich mit den
wechselnden Eigenschaften der Menschen erkannt werden.“78
Diese Gesetze scheint man auf die Bilder von Hiepes nicht mehr anwenden zu können,
der Mensch fehlt als Maß. Die Stadt ist direkt oberhalb der Wassermelone gemalt und
macht diese Diskrepanz deutlich: Sie fände komplett im Inneren der Frucht Platz. Das
gleiche Phänomen kann bei dem Stillleben Feigenpyramide in einer Landschaft (Abb.9)
beobachtet werden.
Auch in dem Bild Affe und Hund mit Granatäpfeln vor einem Brunnen (Abb.10) löst sich die Sehhierarchie gänzlich auf, indem Größenunterschiede nicht mehr durch die
Perspektive entstehen, sondern sich nebeneinander in der gleiche Ebene befinden,
jegliche Gesetze der Optik außer Kraft setzen und sich so wieder einer
vorperspektivischen Darstellungsweise annähern79.
In den Arbeiten Brueghels wie auch in denen Hiepes’ entspricht die Darstellung der
Früchte nicht ihrem natürlichen Verhältnis zu der sie umgebenden Landschaft. Sie
werden 'künstlich' in Form von Anhäufungen in diese eingefügt und wie an einem
Marktstand präsentiert. Es handelt sich um angebaute und bereits geerntete Lebensmittel.
Wie es bei den Blumen der Fall ist, kann es sich um Obst handeln, das nicht regional
gebunden ist. Während seines Aufenthaltes in Brasilien stellte Albert Eckhout in seinen
Gemälden holländische Früchte neben für ihn bislang unbekannten brasilianischen dar
und verwies damit auf ihren Im- bzw. Export. Neue Fruchtsorten wurden nach
Nordeuropa verschifft und dort kultiviert, sofern es die klimatischen Bedingungen
erlaubten. Ebenso bauten die Reisenden die ihnen vertraute Nahrung in den neuen
Ländern an.80 Aufgrund des milden Klimas im Winter konnten in Spanien viele Obstund
Getreidesorten aus Übersee angebaut werden: Der mexikanische Mais wurde nach
der Entdeckung Amerikas (1492) seit 1525 kultiviert, ebenso wie die aus Afrika
stammenden Melonen. In Hiepes’ Bildern sind die Früchte nicht ausschließlich wegen
ihrer Exotik dargestellt; es handelt sich um Mischungen verschiedenster Art, wobei die
ihnen anhaftende Symbolik wohl zumeist mit berücksichtigt wurde.
Ein Unterschied besteht in der Form der Integration der Früchte in die Landschaft:
Während sich Hiepes' Stillleben meist 'vor' einer Landschaft präsentieren, setzt Brueghel
sie direkt 'in' diese hinein. Hiepes verbindet in seiner Malerei die beiden Gattungen,
wobei sich die Bildebenen allerdings nur bedingt miteinander vermischen. Meistens
bleibt die Landschaft durch die extreme Sicht in die Ferne, die in direktem Kontrast zu
dem Nahansichtigen gestellt wird, kulissenhaft. In Stillleben mit Wassermelone in einer
Landschaft ist das Obst in einer erhöhten und felsigen Umgebung dargestellt; die
Landschaft fällt in der Bildtiefe ab und bietet eine Aufsicht in ein Tal. In Fruchtschale
auf Balustrade vor Landschaft (Abb. 11) ist die Situation ähnlich. Auch befindet sich
das Obst in erhöhter Lage, in felsiger Umgebung. Im Hintergrund erstrecken sich eine
Bucht und eine Bergkette. Die Früchte liegen symmetrisch aufgetürmt in einer weißblauen,
mit einer Landschaftsdarstellung verzierten Schale. Die auf dem Gefäß zu sehende Landschaft ähnelt auffällig jener, vor der sie sich befindet, und kann als
zweifache Reproduktion des Motivs gelesen werden. Auf der Schale erkennt man eine
Bucht, in der ein Schiff vor Anker gegangen ist, im Vordergrund befindet sich eine
bewaldete Anhöhe, auf der eine Festung steht. Die Schale selbst steht auf einer
Balustrade, die zu der auf der Keramik befindlichen Architektur gehören könnte. Am
rechten Bildrand nimmt man eine ähnliche Bewaldung wahr, die die Assoziation eines
doppelten Motivs verstärkt.
Das Obst ist auf diesem Gemälde durch die harmonische Symmetrie und die
gleichmäßige, stilisierte Anordnung der Früchte zwar wesentlich deutlicher als
geerntetes und kultiviertes und als von der Landschaft entferntes dargestellt, als es in
Stillleben mit Wassermelone in einer Landschaft der Fall ist, doch gilt Letzteres für mich
ebenfalls als ein Stillleben 'vor', statt 'in' einer Landschaft. Das Arrangement des Obstes
im Allgemeinen und die erfolgte Halbierung der Melone im Besonderen lassen auf eine
künstliche Situation schließen. Auf den ersten Blick wirkt sie möglicherweise natürlich,
doch auch hier ist es der Blick eines zur Akribie neigenden Künstlers, der Früchte als
Inszenierung benutzt. Die Feigen sind in den verschiedenen Reifestadien gemalt, einer
der zwei Maiskolben ist bereits aus den Blättern geschält, die Melone ist in der Mitte
aufgeschnitten, damit ihr Inneres gezeigt werden kann. Die sechs an dem Weinstock
hängenden Trauben aus der mittleren Bildebene werden dort extra für den Betrachter
fächerartig präsentiert. Sie hängen zwar noch am Stock, so dass man vermuten könnte,
es gehe um eine naturgetreue Darstellung, doch spätestens beim Betrachten der
Weinblätter wird deutlich, dass auch diese silhouettenhaft, zum Betrachter geneigt und
idealisiert dargestellt sind. Einen ähnlich entrückten Blick auf die Natur beweist Hiepes
in Weinstock in einer Landschaft (Abb. 12). Der Weinstock ist repräsentativ gefächert in
das Zentrum des Bildträgers gesetzt, die dünnen Zweige ragen rechts und links aus dem
Bild hinaus. Es lässt sich nicht genau lokalisieren, an welcher Stelle der Baum mit dem
wolkig gemalten, immateriell wirkenden Erdboden verwächst: Holz und Erde laufen
weich ineinander. Die Blätter scheinen vertikal zu dem Betrachter 'geklappt' worden zu
sein, nur am linken Bildrand befindet sich ein einziges Blatt, welches in die Bildtiefe
führt. Der Weinstock scheint einerseits durch die idealisierte Darstellung als Malerei auf
der Bildoberfläche ein Ornament zu sein, andererseits bildimmanent über dem Erdboden
zu schweben. Es wirkt so, als befinde er sich nahe hinter einer Glasscheibe, so dass die
Blätter gegen diese gedrückt werden und so aus ihrer natürlichen, der Sonne
zugewandten Position gebracht wurden. Die beiden auf dem Boden liegenden Weinblätter illustrieren diese Wirkung zusätzlich. Sie sind in starker Aufsicht dargestellt
und lassen den Boden ähnlich wie in den Bildern Brueghels stark nach vorn abfallen,
während der Weinstock als Ganzes frontal abgebildet ist. Die drei glänzenden, plastisch
gemalten Reben hängen symmetrisch von dem Stock herab und widersprechen der sonst
eher zeichnerischen, am Umriss (an floraler Linie) interessierten Komposition. Die
Reben sind zwar in die Landschaft hineingemalt, doch geht es hier wohl kaum um eine
naturgetreue Wiedergabe. Das Interesse an einer Imitation der Natur ist ausschließlich
auf die Darstellung der Reben beschränkt; der Rest, der Weinstock mit seinen Blättern
wie auch die Landschaft, ist zeichenhafte und schmückende, sich wiederholende und
unspezifische Umgebung. Der Maler Juan Fernández, von dem zu Lebzeiten lediglich
bekannt war, dass er in der Nähe von Madrid auf dem Lande wohnte und arbeitete und
die Stadt nur aufsuchte, um seine Bilder zu verkaufen, und deshalb von seinen Kollegen
und Käufern El Labrador, der Bauer, genannt wurde (und auch heute unter diesem
Namen bekannt ist), malte um 1620-30 ein kleinformatiges Bild, das unter dem Titel
Hängende Trauben (Abb. 13) inventarisiert ist. Es handelt sich um zwei perfekt
illusionistisch gemalte Porträts zweier Reben. Jede einzelne Traube erscheint feinfühlig
in Form, Farbe und Oberfläche beobachtet und akribisch wiedergegeben. Die an einem
dünnen Band hängenden Reben sind aus einem monochromen dunklen Hintergrund
herausgearbeitet. Das direkte, von links kommende Licht begünstigt, dass die reifen
Trauben glasig leuchten, indem sie das Licht innerhalb der Frucht sammeln; die noch
festeren, noch nicht ganz so reifen absorbieren das Licht samtig und schimmernd. Erst
durch die komplette Isolation der Rebe scheint wirklich eine die Natur imitierende Kunst
möglich zu sein. Allerdings malte auch El Labrador sehr viel stärker stilisierte Bilder als
jenes Meisterwerk der Illusion: So wirkt Runder Blumenstrauß (Abb.14) von 1636 eher
wie ein Dekor aus Marzipan.
In dem Kapitel über die Optik wurde deutlich, dass der Mensch sich durch den Wandel
des Verständnisses von Wahrnehmung im Sinne der Sendetheorie, die das Auge als ein
Sehstrahlen aussendendes Organ begreift, welches seine Umgebung gleichsam aktiv
abtaste, hin zu einem Auge, in das die einzelnen Abbilder der Umwelt ohne aktive
Beteiligung des Menschen 'einfallen', sich selbst in seiner Welt neu wahrnahm. Der
Mensch war nicht Teil seiner Umgebung, sondern von dieser als eigenständiger,
funktionsorientierter Körper isoliert. Er nahm die Natur um sich herum als 'Außen' und
sich selbst als 'Innen' wahr. Dieses Außen trat in Form von Bildern durch die
'Augenlinse' in das Dunkel seines Inneren und projizierte ein Abbild auf seine Retina. Die Auseinandersetzung mit den Grenzen des eigenen Körperraumes in Bezug auf den
ihn umgebenden Raum wird in Kombinationen von Stillleben und
Landschaftsdarstelllungen deutlich. Als 'Stillleben mit Ausblick' werden Gemälde
bezeichnet, die ein in einem 'Zimmer' arrangiertes Stillleben zeigen, welches durch ein
Fenster oder eine Tür mit der 'Außenwelt ' verbunden wird. Erinnert man sich an Keplers
Gleichsetzung des Sehorgans mit der Camera obscura und daran, dass zum Teil ganze
Räume von Häusern als solche umfunktioniert wurden, indem durch ein kleines Loch in
einer Jalousie das einzige Licht eindrang und man den Ausblick, den sonst das offene
Fenster geboten hätte, als Projektion auf der Wand anschauen konnte, so kann man das
Zimmer assoziativ als den dunklen Körperraum begreifen und das Fenster als Auge,
durch welches die Welt sichtbar wird. Auf der Retina bildet sich das Abbild der Umwelt,
welches Kepler als kleines 'Gemälde' auffasste, das unabhängig von der Seele dort
existiere. So liegt der Versuch des Malers nahe, die Natur im doppelten Sinn zu
imitieren, indem er sich Früchte und alle möglichen anderen Dinge – natürliche, wie
auch 'künstliche, also vom Menschen geschaffene – in sein Atelier holt um diese, gleich
wie es sein Auge selbst tut, abzubilden. Somit symbolisiert das Fenster – das echte wie
auch das gemalte – den Standort des Subjekts, das aus dem Fenster hinaus auf die Welt
blickt.81
Hiepes bejaht die Tradition des Stilllebens mit ihrer Reduktion auf das Gegenständliche
und dem Zurücknehmen der Handlung. Ein wahres Betrachten der Objekte wird
ermöglicht, da die Malerei, von Zwecken der Dekoration abgesehen, funktionslos ist.
Das Zusammenführen von Nah- und Fernsicht kann als ein Interesse an der Optik und
der Frage nach der Kapazität der menschlichen Sinne angesehen werden.
Die Hinwendung zu materiellen Dingen und zu ihrer puren Präsentation hat neben den
Aspekten der Sammlung und den wissenschaftlichen Errungenschaften der Optik noch
einen weiteren wichtigen gesellschaftlichen Grund, den es zu untersuchen gilt: die
Geburt der freien Wirtschaft.
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