Jan Brandt
Ich bin der Einzige, manche sagen, der Letzte, aber das gefällt mir nicht, das ist mir zu negativ, das klingt, als ob nach mir keiner mehr käme. Vielleicht ist es so, wer weiß, bei den anderen war es so, doch das heißt nicht, dass es bei mir auch so sein muss. Ich suche nicht nach einem Nachfolger, und es drängt sich mir auch niemand auf, meine Söhne wollen nicht, meine Tochter kann nicht, und mein Geselle ist zu dumm dazu, aber noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eines schönen Tages ein junger Mann oder eine junge Frau mit etwas Grips vor meiner Tür steht und sagt: „Ich mach’s. Ich mach weiter.“
Und wenn nicht, auch gut, dann geht es eben zu Ende, so wie alles irgendwann einmal zu Ende geht, das ist der Lauf der Welt. An der Vergangenheit festzuhalten, obwohl sich die Umstände grundlegend geändert haben, führt direkt in den Abgrund. Dann kann ich mich gleich vor den Zug stellen. Ich hab ja gesehen, was mit denen passiert ist, die krampfhaft an den alten Zeiten festgehalten haben, die jeden Morgen aufgestanden und in die Werkstatt gegangen sind und bis zum Mittagessen ihre Maschinen abgestaubt haben. Ich hab die leeren Auftragsbücher gesehen und die leeren Gesichter, und abends hab ich sie im Strandhotel über die Gegenwart jammern hören. Und wenn ich dann doch einmal etwas dazu gesagt habe, weil ich es nicht mehr aushielt, durfte ich mir anhören, dass ich ja leicht reden habe, bei mir laufe es ja noch.
Ja, sagte ich dann, noch laufe es.
Und das Erstaunliche ist, es läuft noch immer, in der siebten Generation, Möbel Kramer, das Möbelparadies Kramer, der einzige verbliebene Handwerksbetrieb in Jericho, sonst ist alles weg. Das Meiste hab ich selbst nicht mehr miterlebt, ich kenne nur die Anzeigen, die Fotos in den Geschichtsbüchern, drüben im Heimatmuseum – dorthin, wo alle ihr wertlos gewordenes Inventar gebracht haben. Sie meinten, es retten zu können, indem sie es einem dauerhaften Zweck zuführten, indem sie es zu historischen Objekten erklärten. Aber die Wahrheit ist: Niemand schaut sich das Zeug an. Viele Jerichoer schneien nur einmal im Leben herein; selbst wenn sie Besuch von außerhalb haben, bleiben sie draußen stehen oder setzen sich gleich ins Café nebenan und rufen ihren Gästen „Ich warte hier!“ hinterher, es dauert ja nicht lang, es ist ja nur ein Gulfhof im Hammrich, dreihundert Quadratmeter voller Tand. Die Touristen zahlen nur deshalb Eintritt, weil es, abgesehen vom Schulmuseum, weit und breit keine anderen kulturellen Angebote gibt. Und die Schulklassen, die Jahr für Jahr durchgetrieben werden wie Schlachtvieh, werfen keinen Blick auf die Exponate, hören dem Leiter des Museums nicht zu, treten sich lieber in die Hacken, kneifen sich in die Seiten, schauen sehnsüchtig aus den Fenstern, warten auf den Moment der Erlösung.
Ich weiß das, weil ich der Leiter bin. Ehrenamtlich; Geld würde ich dafür auch nicht nehmen wollen. Täte ich es nicht, niemand würde es machen. Die Alten, die, die in meinem Alter sind, sitzen zwar ständig zusammen und erzählen von früher, vor ihnen liegt ja gemessen daran auch viel weniger, aber mit mir tauschen wollen würden sie nicht, „immer die gleichen Geschichten“, sagen sie dann, und ich sage dann, „ja, immer die gleichen Geschichten, eure muss ich mir ja auch immer anhören.“
Dabei haben wir einiges zu bieten, Reliquien einer untergegangenen Kultur: Milchflaschen aus der Molkerei Jericho; Blechschilder von Busboom, Oltmanns und Kromminga; Kriegstagebücher von Einsätzen in Syrien, Marokko und Spanien; Fahnen vom Schützenverein; Blaupausen von Kolthoff zur Neugestaltung des Dorfes; ein Webstuhl und eine Etikettierpistole von Vehndel; der Amboss von Schulz; ein Deutz-Traktor von Brechtezende; eine golden schimmernde National-Registrierkasse von Tinnemeyer; ein Rollschrank von Superneemann; eine Hollerithmaschine von Rosing; eine Bräunungsbank von Solar Hanken; eine Bäuerle-Tischkreissäge aus meinem Bestand; der Queue von Berger, mit dem er unten in Petersens Poolhalle jedes Spiel gewonnen hat; eine voll funktionsfähige Heißmangel, niemand weiß, von wem; die komplette Inneneinrichtung der Friesenapotheke; Wäschekörbe voller Fotos und Briefe und Ahnentafeln; die Leuchtreklame vom Club 69 und den bis oben hin befüllten Kondomautomaten von Drogerie Kuper. Aber man kriegt nichts mehr raus, und das Geld, das die jungen Leute mit feuchten Fingern einwerfen, bleibt stecken. Ich hab die Kassette schon mehrmals geleert, über die Jahre kommt da eine hübsche Summe zusammen, die wir, weil wir auf Spenden angewiesen sind, dringend brauchen.
Ich bin immer auf der Suche nach neuen alten Dingen. Da trifft es sich, dass ich für Klaaßen, den Bestatter, die Särge anfertige und die Angehörigen der Toten frage, ob sie nicht etwas für mich haben. Es gibt welche, die finden das geschmacklos, aber die meisten sind dankbar, den Krempel ihrer Vorfahren loszuwerden. Sie wirken richtig erleichtert, wenn ich vorbeikomme und die Sachen abhole. Ich spare ihnen ein paar Meter – den Gang bis zur Straße; ich nehme ihnen eine Last ab, eine Altlast, befreie sie von der Schuld, das alles zum Andenken ihrer Verwandten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufbewahren zu müssen. Jeden ersten Freitag im Monat fahre ich in aller Frühe durchs Dorf und sammele, bevor die Müllabfuhr kommt, Sperrgut ein. Vieles davon kann nicht einmal ich gebrauchen, fußbetriebene Nähmaschinen zum Beispiel, davon habe ich Dutzende auf dem Lager stehen, und doch entdecke ich immer wieder etwas, das ich so, in dieser Ausführung noch nicht habe, Kluntjedosen von Knipper, anlässlich des 50. Firmenjubiläums; ein Paar Breinermoorer, Schöfels, halb verrottete Schlittschuhe, rostige Kufen mit eingeprägtem Stern; ein Streichholzbriefchen aus dem Strandhotel, noch aus Krögers Zeiten.
Vor ein paar Monaten aber habe ich bei Abrissarbeiten etwas gefunden, was ich mir nicht erklären kann. Ich war gerade dabei, das Parkett des Pfarrhauses aufzustemmen – schönstes Fischgrätmuster vom Anfang des letzten Jahrhunderts, bestens erhalten, trotz einiger abgelaufener Stellen – da sah ich unter dem Holz ein Stück Alufolie liegen, sorgfältig zusammengefaltet wie ein Briefumschlag. Das erste warf ich achtlos hinter mich, doch dann stieß ich auf ein zweites und drittes und viertes Stück, eingestreut in die Kassetten, zwischen die das Parkett tragenden Querlatten. Ich hob eins davon auf, strich mit der Hand über die Oberfläche, fühlte, dass etwas sehr Dünnes darin sein musste, und als ich es auswickelte, war ich wie vor den Kopf geschlagen: ein Fingerabdruck auf Papier, mit zackigen Rändern wie von Kinderhand ausgeschnitten. Auch in den anderen Briefchen waren Fingerabdrücke, blaue, schwarze, grüne. Manche verschmiert und fleckig, andere dagegen ganz deutlich, ganz klar, mit einer feinen Maserung, mit Schleifen, Bögen, Windungen. Ich suchte nach irgendeiner Erklärung dafür, aber unterm Holz lag nicht mehr als das, kein Zettel, nichts, was darauf hindeutete, wie die Fingerabdrücke dorthin geraten waren. Und nachdem ich alles zusammengeräumt hatte, ging ich zum letzten Pastor hin, Pastor Klüver, schon lange außer Dienst, und zeigte ihm meinen Schatz. Er zuckte mit den Schultern, meinte, das müsse vor seiner Zeit geschehen sein, und versprach, beim Kirchenkreisamt nach Unterlagen vorangegangener Renovierungen zu fragen. „Die Mühe“, sagte ich, „kannst du dir sparen, wer außer Möbel Kramer soll das gemacht haben, und so eine Geschichte hab ich noch nie gehört.“
Auch das Feierabendbier im Strandhotel, sonst Garant für schnelle, einfache Erklärungen, brachte keinen Aufschluss über die Abdrücke; die Ausschnitte gingen von Hand zu Hand, jeder gab seine Meinung dazu ab – ein Scherz, ein Streich, ein Schwindel –; am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als damit zur Polizei zu gehen. Saathoff, auch nicht mehr der Jüngste, besah sich alles aufmerksam und sagte dann, „das haben wir gleich, ich jag die mal eben durchs System.“ Er sprach etwas zur Decke hin, ein Mitarbeiter kam, er trug einen weißen Kittel und Einweghandschuhe und nahm die Alufolien an sich. Saathoff und ich tranken eine Tasse Tee, unterhielten uns über unsere Frauen, Fußball und unsere Väter – ein Thema, auf das wir immer zu sprechen kommen, weil sein Vater in seiner eigenen Dienstzeit ein Tagebuch geführt hat, in dem auch mein Vater vorkommt. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erzählt er mir davon, und jedes Mal eine andere Episode, und jedes Mal bitte ich ihn, es mir einmal zu zeigen, und jedes Mal verspricht er es, aber es wird nie was draus, sodass ich langsam glaube, dass es dieses Tagebuch gar nicht gibt.
Als der Mitarbeiter mit den Fingerabdrücken zurückkam, er hatte sie einzeln in durchsichtige Plastiktüten gepackt, standen wir beide auf, als erwarteten wir eine Trauernachricht.
Der Mann sagte: „Es gibt keine Übereinstimmungen.“
Und Saathoff sagte: „Das kann doch gar nicht sein.“
„Hel, ich hab alles überprüft, im AFIS ist nichts, kein einziger Treffer.“
„Da drin sind doch alle erfasst, alle Lebenden und alle Toten.“
„Jedenfalls die der letzten siebzig Jahre, ja.“
„Und da ist nichts dabei?“
„Nichts?“
„Dann muss es sich um Fälschungen handeln“, sagte Saathoff.
„Fälschungen?“, sagte ich. „Von Fingerabdrücken? Wer macht denn so was?“
„Was weiß ich. Früher war’s Geld, heute sind’s Identitäten. Lukratives Geschäft. Könnten wohl Proben sein, die jemand verloren hat.“
„Im Pfarrhaus?“
„Waren da nicht ’ne Zeitlang Flüchtlinge untergebracht?“
„Aber“, sagte ich, „die Dinger lagen unterm Holz.“
„Können die nicht irgendwo zwischengerutscht sein?“
„Das Parkett war fest wie nur was, ich hab’s kaum rausgekriegt.“
„Ich werd’ mich mal umhören“, sagte Saathoff und zog die Tüten zu sich heran.
„Kann ich die wiederhaben?“ Ich hoffte, die Abdrücke gleich im Museum ausstellen zu können; ich versprach mir davon mehr Zuspruch, gerade weil deren Herkunft ungeklärt war, aber Saathoff schüttelte nur den Kopf und sagte, dass er sich bei mir melden werde, sobald er mehr wisse.
Zwei Wochen später rief er mich an, meinte, es gebe Neuigkeiten, und bat mich, aufs Präsidium zu kommen, er könne das nicht am Telefon besprechen. Also fuhr ich wieder in die Stadt, wieder saß ich ihm gegenüber und wieder tranken wir Tee, aber dieses Mal zeigte er mir an die Wand projizierte Fotos – Fotos von Fingerabdrücken, Fingerabdrücke, wie ich sie im Pfarrhaus gefunden hatte, „aber diese“, erklärte Saathoff, „stammen aus der Anna Amalia Bibliothek in Weimar, und diese“, er wischte mit der Hand durch den Raum, woraufhin ein neues Foto mit neuen Fingerabdrücken erschien, „aus der Hofapotheke in Heidelberg, und diese hier“, wieder wischte er mit der Hand durch den Raum, und wieder tauchten an der Wand neue Fingerabdrücke auf, die den vorangegangenen zum Verwechseln ähnlich sahen, „aus dem Schloss auf der Pfaueninsel, ich könnte dir zig weitere Beispiele aus ganz Europa zeigen.“
„Ja, und?“, sagte ich.
„An all diesen Orten wurden in den letzten Jahren Fingerabdrücke gefunden, eingewickelt in Alufolie, Interpol hat eine eigene Datenbank dazu eingerichtet, weil sie sich alle einer Identifizierung entziehen.“
„Also doch Fälschungen?“
„Offenbar nicht.“
„Was dann?“
„Sicher ist nur, dass Papier und Tinte sehr alt sind, mindestens hundert Jahre. Die älteste Probe aus dem“ – dabei sah er auf einen Zettel – „Otaheitischen Kabinett stammt etwa aus dem Jahr 2010.“
In den Wochen darauf erzählte er mir von neuen Entdeckungen, das Thema ließ ihn nicht los, und irgendwie, womöglich hatte einer aus dem Strandhotel nicht an sich halten können, bekam ein Journalist Wind von der Sache, er stellte mir Fragen und machte Fotos von mir vor den Resten des Pfarramtes, und die Geschichte von mir und meinen Fingerabdrücken machte die Runde, alle sprachen mich darauf an, ein paar Scherzbolde hinterließen ihre Fingerabdrücke im Museum und schrieben Ich war hier oder Ich war das daneben.
Ich bat Saathoff um Rückgabe der Abdrücke, aber alles, was er sagte, war, „das sind Beweisstücke, da kann ich nichts machen.“
„Beweisstücke?“, fragte ich. „Für was? Für die Existenz von Menschen? Diese Dinger beweisen gar nichts.“
„Ach nein? Wie sind sie dann unters Holz geraten?“
„Was willst du denn damit sagen? Dass es mit irgendwas Übernatürlichem zu tun hat?“
„Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung dafür.“
„Ja“, sagte ich, „vielleicht waren das Handwerker, die ihre Spuren hinterlassen wollten.“
„An zig verschiedenen Orten und über einen so langen Zeitraum?“
„Wanderarbeiter auf der Walz.“
„Du hast doch selbst gesagt, dass dein Großvater das im Pfarrhaus gemacht haben muss. War der auch auf der Walz?“
„Ich weiß nicht viel über ihn. Mein Vater hat nie viel von ihm erzählt.“
„Wir wissen insgesamt sehr wenig.“
„Der taucht nicht zufällig in deinem Tagebuch auf?“
„Wer?“
„Mein Großvater.“
„Wann ist der gestorben?“
„Vor meiner Geburt.“
„So weit reicht das nicht zurück.“
Aber gestern, zu meinem zweiundsechzigsten Geburtstag, überreichte mir Saathoff ein sehr leichtes Paket mit den Worten, „das darfst du erst morgen öffnen, das ist für die Zukunft“, und heute habe ich’s geöffnet, und es waren die Fingerabdrücke drin. Ich hab ihn natürlich gleich angerufen, gefragt, ob der Fall gelöst sei, und daraufhin hat er nur gelacht und gesagt, „viel besser: Es gibt kein Interesse mehr daran.“
„Was soll das denn heißen?“
„Das ist nicht wichtig genug.“
„Das heißt also, ich darf die jetzt ausstellen?“
„Die kannst du dir im Klo an die Wand nageln. Wir haben jedenfalls keine Verwendung mehr dafür.“
Schon bald, da bin ich mir sicher, stehen die Jugendlichen im Heimatmuseum ungeduldig davor; sie drängen sich um die Vitrine, schubsen sich gegenseitig weg, um den besten Blick auf meine Entdeckung zu haben, und bestaunen voller Ehrfurcht und Bewunderung das Unerklärbare.
Jan Brandt
Ich bin der Einzige, manche sagen, der Letzte, aber das gefällt mir nicht, das ist mir zu negativ, das klingt, als ob nach mir keiner mehr käme. Vielleicht ist es so, wer weiß, bei den anderen war es so, doch das heißt nicht, dass es bei mir auch so sein muss. Ich suche nicht nach einem Nachfolger, und es drängt sich mir auch niemand auf, meine Söhne wollen nicht, meine Tochter kann nicht, und mein Geselle ist zu dumm dazu, aber noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass eines schönen Tages ein junger Mann oder eine junge Frau mit etwas Grips vor meiner Tür steht und sagt: „Ich mach’s. Ich mach weiter.“
Und wenn nicht, auch gut, dann geht es eben zu Ende, so wie alles irgendwann einmal zu Ende geht, das ist der Lauf der Welt. An der Vergangenheit festzuhalten, obwohl sich die Umstände grundlegend geändert haben, führt direkt in den Abgrund. Dann kann ich mich gleich vor den Zug stellen. Ich hab ja gesehen, was mit denen passiert ist, die krampfhaft an den alten Zeiten festgehalten haben, die jeden Morgen aufgestanden und in die Werkstatt gegangen sind und bis zum Mittagessen ihre Maschinen abgestaubt haben. Ich hab die leeren Auftragsbücher gesehen und die leeren Gesichter, und abends hab ich sie im Strandhotel über die Gegenwart jammern hören. Und wenn ich dann doch einmal etwas dazu gesagt habe, weil ich es nicht mehr aushielt, durfte ich mir anhören, dass ich ja leicht reden habe, bei mir laufe es ja noch.
Ja, sagte ich dann, noch laufe es.
Und das Erstaunliche ist, es läuft noch immer, in der siebten Generation, Möbel Kramer, das Möbelparadies Kramer, der einzige verbliebene Handwerksbetrieb in Jericho, sonst ist alles weg. Das Meiste hab ich selbst nicht mehr miterlebt, ich kenne nur die Anzeigen, die Fotos in den Geschichtsbüchern, drüben im Heimatmuseum – dorthin, wo alle ihr wertlos gewordenes Inventar gebracht haben. Sie meinten, es retten zu können, indem sie es einem dauerhaften Zweck zuführten, indem sie es zu historischen Objekten erklärten. Aber die Wahrheit ist: Niemand schaut sich das Zeug an. Viele Jerichoer schneien nur einmal im Leben herein; selbst wenn sie Besuch von außerhalb haben, bleiben sie draußen stehen oder setzen sich gleich ins Café nebenan und rufen ihren Gästen „Ich warte hier!“ hinterher, es dauert ja nicht lang, es ist ja nur ein Gulfhof im Hammrich, dreihundert Quadratmeter voller Tand. Die Touristen zahlen nur deshalb Eintritt, weil es, abgesehen vom Schulmuseum, weit und breit keine anderen kulturellen Angebote gibt. Und die Schulklassen, die Jahr für Jahr durchgetrieben werden wie Schlachtvieh, werfen keinen Blick auf die Exponate, hören dem Leiter des Museums nicht zu, treten sich lieber in die Hacken, kneifen sich in die Seiten, schauen sehnsüchtig aus den Fenstern, warten auf den Moment der Erlösung.
Ich weiß das, weil ich der Leiter bin. Ehrenamtlich; Geld würde ich dafür auch nicht nehmen wollen. Täte ich es nicht, niemand würde es machen. Die Alten, die, die in meinem Alter sind, sitzen zwar ständig zusammen und erzählen von früher, vor ihnen liegt ja gemessen daran auch viel weniger, aber mit mir tauschen wollen würden sie nicht, „immer die gleichen Geschichten“, sagen sie dann, und ich sage dann, „ja, immer die gleichen Geschichten, eure muss ich mir ja auch immer anhören.“
Dabei haben wir einiges zu bieten, Reliquien einer untergegangenen Kultur: Milchflaschen aus der Molkerei Jericho; Blechschilder von Busboom, Oltmanns und Kromminga; Kriegstagebücher von Einsätzen in Syrien, Marokko und Spanien; Fahnen vom Schützenverein; Blaupausen von Kolthoff zur Neugestaltung des Dorfes; ein Webstuhl und eine Etikettierpistole von Vehndel; der Amboss von Schulz; ein Deutz-Traktor von Brechtezende; eine golden schimmernde National-Registrierkasse von Tinnemeyer; ein Rollschrank von Superneemann; eine Hollerithmaschine von Rosing; eine Bräunungsbank von Solar Hanken; eine Bäuerle-Tischkreissäge aus meinem Bestand; der Queue von Berger, mit dem er unten in Petersens Poolhalle jedes Spiel gewonnen hat; eine voll funktionsfähige Heißmangel, niemand weiß, von wem; die komplette Inneneinrichtung der Friesenapotheke; Wäschekörbe voller Fotos und Briefe und Ahnentafeln; die Leuchtreklame vom Club 69 und den bis oben hin befüllten Kondomautomaten von Drogerie Kuper. Aber man kriegt nichts mehr raus, und das Geld, das die jungen Leute mit feuchten Fingern einwerfen, bleibt stecken. Ich hab die Kassette schon mehrmals geleert, über die Jahre kommt da eine hübsche Summe zusammen, die wir, weil wir auf Spenden angewiesen sind, dringend brauchen.
Ich bin immer auf der Suche nach neuen alten Dingen. Da trifft es sich, dass ich für Klaaßen, den Bestatter, die Särge anfertige und die Angehörigen der Toten frage, ob sie nicht etwas für mich haben. Es gibt welche, die finden das geschmacklos, aber die meisten sind dankbar, den Krempel ihrer Vorfahren loszuwerden. Sie wirken richtig erleichtert, wenn ich vorbeikomme und die Sachen abhole. Ich spare ihnen ein paar Meter – den Gang bis zur Straße; ich nehme ihnen eine Last ab, eine Altlast, befreie sie von der Schuld, das alles zum Andenken ihrer Verwandten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufbewahren zu müssen. Jeden ersten Freitag im Monat fahre ich in aller Frühe durchs Dorf und sammele, bevor die Müllabfuhr kommt, Sperrgut ein. Vieles davon kann nicht einmal ich gebrauchen, fußbetriebene Nähmaschinen zum Beispiel, davon habe ich Dutzende auf dem Lager stehen, und doch entdecke ich immer wieder etwas, das ich so, in dieser Ausführung noch nicht habe, Kluntjedosen von Knipper, anlässlich des 50. Firmenjubiläums; ein Paar Breinermoorer, Schöfels, halb verrottete Schlittschuhe, rostige Kufen mit eingeprägtem Stern; ein Streichholzbriefchen aus dem Strandhotel, noch aus Krögers Zeiten.
Vor ein paar Monaten aber habe ich bei Abrissarbeiten etwas gefunden, was ich mir nicht erklären kann. Ich war gerade dabei, das Parkett des Pfarrhauses aufzustemmen – schönstes Fischgrätmuster vom Anfang des letzten Jahrhunderts, bestens erhalten, trotz einiger abgelaufener Stellen – da sah ich unter dem Holz ein Stück Alufolie liegen, sorgfältig zusammengefaltet wie ein Briefumschlag. Das erste warf ich achtlos hinter mich, doch dann stieß ich auf ein zweites und drittes und viertes Stück, eingestreut in die Kassetten, zwischen die das Parkett tragenden Querlatten. Ich hob eins davon auf, strich mit der Hand über die Oberfläche, fühlte, dass etwas sehr Dünnes darin sein musste, und als ich es auswickelte, war ich wie vor den Kopf geschlagen: ein Fingerabdruck auf Papier, mit zackigen Rändern wie von Kinderhand ausgeschnitten. Auch in den anderen Briefchen waren Fingerabdrücke, blaue, schwarze, grüne. Manche verschmiert und fleckig, andere dagegen ganz deutlich, ganz klar, mit einer feinen Maserung, mit Schleifen, Bögen, Windungen. Ich suchte nach irgendeiner Erklärung dafür, aber unterm Holz lag nicht mehr als das, kein Zettel, nichts, was darauf hindeutete, wie die Fingerabdrücke dorthin geraten waren. Und nachdem ich alles zusammengeräumt hatte, ging ich zum letzten Pastor hin, Pastor Klüver, schon lange außer Dienst, und zeigte ihm meinen Schatz. Er zuckte mit den Schultern, meinte, das müsse vor seiner Zeit geschehen sein, und versprach, beim Kirchenkreisamt nach Unterlagen vorangegangener Renovierungen zu fragen. „Die Mühe“, sagte ich, „kannst du dir sparen, wer außer Möbel Kramer soll das gemacht haben, und so eine Geschichte hab ich noch nie gehört.“
Auch das Feierabendbier im Strandhotel, sonst Garant für schnelle, einfache Erklärungen, brachte keinen Aufschluss über die Abdrücke; die Ausschnitte gingen von Hand zu Hand, jeder gab seine Meinung dazu ab – ein Scherz, ein Streich, ein Schwindel –; am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als damit zur Polizei zu gehen. Saathoff, auch nicht mehr der Jüngste, besah sich alles aufmerksam und sagte dann, „das haben wir gleich, ich jag die mal eben durchs System.“ Er sprach etwas zur Decke hin, ein Mitarbeiter kam, er trug einen weißen Kittel und Einweghandschuhe und nahm die Alufolien an sich. Saathoff und ich tranken eine Tasse Tee, unterhielten uns über unsere Frauen, Fußball und unsere Väter – ein Thema, auf das wir immer zu sprechen kommen, weil sein Vater in seiner eigenen Dienstzeit ein Tagebuch geführt hat, in dem auch mein Vater vorkommt. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erzählt er mir davon, und jedes Mal eine andere Episode, und jedes Mal bitte ich ihn, es mir einmal zu zeigen, und jedes Mal verspricht er es, aber es wird nie was draus, sodass ich langsam glaube, dass es dieses Tagebuch gar nicht gibt.
Als der Mitarbeiter mit den Fingerabdrücken zurückkam, er hatte sie einzeln in durchsichtige Plastiktüten gepackt, standen wir beide auf, als erwarteten wir eine Trauernachricht.
Der Mann sagte: „Es gibt keine Übereinstimmungen.“
Und Saathoff sagte: „Das kann doch gar nicht sein.“
„Hel, ich hab alles überprüft, im AFIS ist nichts, kein einziger Treffer.“
„Da drin sind doch alle erfasst, alle Lebenden und alle Toten.“
„Jedenfalls die der letzten siebzig Jahre, ja.“
„Und da ist nichts dabei?“
„Nichts?“
„Dann muss es sich um Fälschungen handeln“, sagte Saathoff.
„Fälschungen?“, sagte ich. „Von Fingerabdrücken? Wer macht denn so was?“
„Was weiß ich. Früher war’s Geld, heute sind’s Identitäten. Lukratives Geschäft. Könnten wohl Proben sein, die jemand verloren hat.“
„Im Pfarrhaus?“
„Waren da nicht ’ne Zeitlang Flüchtlinge untergebracht?“
„Aber“, sagte ich, „die Dinger lagen unterm Holz.“
„Können die nicht irgendwo zwischengerutscht sein?“
„Das Parkett war fest wie nur was, ich hab’s kaum rausgekriegt.“
„Ich werd’ mich mal umhören“, sagte Saathoff und zog die Tüten zu sich heran.
„Kann ich die wiederhaben?“ Ich hoffte, die Abdrücke gleich im Museum ausstellen zu können; ich versprach mir davon mehr Zuspruch, gerade weil deren Herkunft ungeklärt war, aber Saathoff schüttelte nur den Kopf und sagte, dass er sich bei mir melden werde, sobald er mehr wisse.
Zwei Wochen später rief er mich an, meinte, es gebe Neuigkeiten, und bat mich, aufs Präsidium zu kommen, er könne das nicht am Telefon besprechen. Also fuhr ich wieder in die Stadt, wieder saß ich ihm gegenüber und wieder tranken wir Tee, aber dieses Mal zeigte er mir an die Wand projizierte Fotos – Fotos von Fingerabdrücken, Fingerabdrücke, wie ich sie im Pfarrhaus gefunden hatte, „aber diese“, erklärte Saathoff, „stammen aus der Anna Amalia Bibliothek in Weimar, und diese“, er wischte mit der Hand durch den Raum, woraufhin ein neues Foto mit neuen Fingerabdrücken erschien, „aus der Hofapotheke in Heidelberg, und diese hier“, wieder wischte er mit der Hand durch den Raum, und wieder tauchten an der Wand neue Fingerabdrücke auf, die den vorangegangenen zum Verwechseln ähnlich sahen, „aus dem Schloss auf der Pfaueninsel, ich könnte dir zig weitere Beispiele aus ganz Europa zeigen.“
„Ja, und?“, sagte ich.
„An all diesen Orten wurden in den letzten Jahren Fingerabdrücke gefunden, eingewickelt in Alufolie, Interpol hat eine eigene Datenbank dazu eingerichtet, weil sie sich alle einer Identifizierung entziehen.“
„Also doch Fälschungen?“
„Offenbar nicht.“
„Was dann?“
„Sicher ist nur, dass Papier und Tinte sehr alt sind, mindestens hundert Jahre. Die älteste Probe aus dem“ – dabei sah er auf einen Zettel – „Otaheitischen Kabinett stammt etwa aus dem Jahr 2010.“
In den Wochen darauf erzählte er mir von neuen Entdeckungen, das Thema ließ ihn nicht los, und irgendwie, womöglich hatte einer aus dem Strandhotel nicht an sich halten können, bekam ein Journalist Wind von der Sache, er stellte mir Fragen und machte Fotos von mir vor den Resten des Pfarramtes, und die Geschichte von mir und meinen Fingerabdrücken machte die Runde, alle sprachen mich darauf an, ein paar Scherzbolde hinterließen ihre Fingerabdrücke im Museum und schrieben Ich war hier oder Ich war das daneben.
Ich bat Saathoff um Rückgabe der Abdrücke, aber alles, was er sagte, war, „das sind Beweisstücke, da kann ich nichts machen.“
„Beweisstücke?“, fragte ich. „Für was? Für die Existenz von Menschen? Diese Dinger beweisen gar nichts.“
„Ach nein? Wie sind sie dann unters Holz geraten?“
„Was willst du denn damit sagen? Dass es mit irgendwas Übernatürlichem zu tun hat?“
„Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung dafür.“
„Ja“, sagte ich, „vielleicht waren das Handwerker, die ihre Spuren hinterlassen wollten.“
„An zig verschiedenen Orten und über einen so langen Zeitraum?“
„Wanderarbeiter auf der Walz.“
„Du hast doch selbst gesagt, dass dein Großvater das im Pfarrhaus gemacht haben muss. War der auch auf der Walz?“
„Ich weiß nicht viel über ihn. Mein Vater hat nie viel von ihm erzählt.“
„Wir wissen insgesamt sehr wenig.“
„Der taucht nicht zufällig in deinem Tagebuch auf?“
„Wer?“
„Mein Großvater.“
„Wann ist der gestorben?“
„Vor meiner Geburt.“
„So weit reicht das nicht zurück.“
Aber gestern, zu meinem zweiundsechzigsten Geburtstag, überreichte mir Saathoff ein sehr leichtes Paket mit den Worten, „das darfst du erst morgen öffnen, das ist für die Zukunft“, und heute habe ich’s geöffnet, und es waren die Fingerabdrücke drin. Ich hab ihn natürlich gleich angerufen, gefragt, ob der Fall gelöst sei, und daraufhin hat er nur gelacht und gesagt, „viel besser: Es gibt kein Interesse mehr daran.“
„Was soll das denn heißen?“
„Das ist nicht wichtig genug.“
„Das heißt also, ich darf die jetzt ausstellen?“
„Die kannst du dir im Klo an die Wand nageln. Wir haben jedenfalls keine Verwendung mehr dafür.“
Schon bald, da bin ich mir sicher, stehen die Jugendlichen im Heimatmuseum ungeduldig davor; sie drängen sich um die Vitrine, schubsen sich gegenseitig weg, um den besten Blick auf meine Entdeckung zu haben, und bestaunen voller Ehrfurcht und Bewunderung das Unerklärbare.